München – Menschen können möglicherweise erst als 4-jährige die Denkweise eines anderen nachvollziehen – und nicht schon sehr viel früher, wie bislang angenommen.
Das berichten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS), des University College London und des Social Neuroscience Lab Berlin in den Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS, doi 10.1073/pnas.1916725117).
Um zu verstehen, was der andere denkt und wie er sich verhalten wird, entwickelt sich im Laufe des Lebens die Fähigkeit, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit wird auch als „Theory of Mind“ bezeichnet. Laut den Forschern scheint das Gehirn 2 verschiedene Strukturen zu besitzen, durch die wir uns in andere hineinversetzen können.
Diese reifen zu unterschiedlichen Zeitpunkten heran. Die Forscher verwendeten für ihre Studie einen Videoclip: Darin ist eine Katze zu sehen, die eine Maus dabei beobachtet, wie sie in einer Kiste verschwindet. Anschließend kehrt die Katze der Kiste für einen Moment den Rücken zu, die Maus huscht unbemerkt in die benachbarte Box. Als die Katze sich wieder der Szenerie widmet, will sie nach ihrer Beute schauen – und läuft auf die erste Kiste zu. Mithilfe der sogenannten Eye-Tracking-Methode analysierten die Wissenschaftler das Blickverhalten von kleinen Studienteilnehmern und stellten fest: Sowohl die 3- als auch 4-jährigen konnten richtig voraussehen, wo die Katze nachschauen wird. Sie erkannten, dass die Katze die Maus noch immer in ihrem 1. Unterschlupf erwartet und dort suchen wird – obwohl sie selbst wussten, dass sich die Maus an anderer Stelle befindet.
Aber: Als die Wissenschaftler die 3-jährigen explizit danach fragten, wo die Katze nach der Maus suchen werde, antworteten sie falsch. Sie konnten also zwar mit ihrem Blick richtig vorhersagen, wo die Katze suchen wird, dies aber nicht beantworten, wenn sie explizit gefragt wurden. Erst 4-jährigen gelang es im Schnitt, die richtige Antwort zu geben. Über Kontrollaufgaben stellten die Wissenschaftler sicher, dass die jungen Studienteilnehmer die Aufgabe und die explizite Nachfrage der Forscher richtig verstanden hatten.
Laut der Arbeitsgruppe sind bei den 2 Entscheidungsprozessen – der non-verbalen Variante über den Blick und der verbalen über die Antwort – andere Hirnstrukturen beteiligt.Beide Bereiche sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten so weit entwickelt, dass sie ihre Funktionen erfüllen können. Im supramarginalen Gyrus, der Region für die non-verbale Perspektivübernahme, sei die Großhirnrinde bereits früher entsprechend weit ausgereift. Damit können bereits 3-jährige die Handlungen anderer vorhersehen.
„Erst im Alter von 4 Jahren sind dann der temporoparietale Übergang und der Precuneus entsprechend herangereift, die Regionen, durch die wir verstehen, was andere denken – und nicht nur, was sie fühlen und sehen oder wie sie handeln werden“, erklärt Erstautorin Charlotte Grosse Wiesmann vom MPI CBS das zentrale Ergebnis der Studie. „Es scheint einen Mechanismus in der frühen Kindheit zu geben, eine frühe Form der Perspektiveinnahme, bei dem man einfach den Blick des anderen übernimmt. In dieser Entwicklungsphase ist man schlicht darauf angewiesen, das zu übernehmen, was etwa die Eltern wissen und sehen“, ergänzte Nikolaus Steinbeis vom University College London.
Quelle:aerzteblatt.de