Poliomyelitis, auch Polio oder Kinderlähmung genannt, ist eine Viruserkrankung, die in schweren Fällen Lähmungen verursacht. Impfungen haben sie in Deutschland selten gemacht
Kinder starren an die Decke, bis zum Hals in einen engen Metallkasten gezwängt, unbeweglich. Es ist beklemmend, solche Bilder aus den 1950er Jahren zu betrachten. Doch die sogenannte eiserne Lunge rettete vielen Kindern und auch einigen Erwachsenen das Leben. Patienten, deren Atemmuskeln durch Polio gelähmt waren, wurden in einem luftdichten Kasten künstlich beatmet: Druckunterschiede sorgten dafür, dass sich ihre Lunge mit Sauerstoff vollsog.
Heute ist dieses Gerät aus den Krankenhäusern verschwunden. Auch die Kinderlähmung, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder seuchenartig ausbreitete, ist heute dank konsequenter Impfung beinahe ausgestorben. Aber nur beinahe. In einigen Ländern Afrikas, Asiens und Osteuropas, wo viele Menschen ohne Impfschutz leben, bricht die Krankheit immer wieder aus und kann auch in andere Regionen eingeschleppt werden. Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt die Polio-Impfung deshalb auch hierzulande weiterhin. In Deutschland leiden noch schätzungsweise zwischen 50.000 und 60.000 Menschen an den Spätfolgen einer Polio-Infektion, die sie vor Jahrzehnten durchgemacht haben.
Wie steckt man sich an?
Das Polio-Virus dringt über Mund oder Nase in den Körper ein. Man kann sich über kleinste Speicheltropfen anstecken, die beim Sprechen oder Atmen in die Luft gelangen, oder beim direkten Kontakt zu Menschen, zum Beispiel wenn man jemandem die Hand gibt. Auch über verunreinigte Gegenstände oder Speisen kann man den Erreger aufnehmen. Vom Mund gelangt der Erreger erst in den Magen-Darm-Trakt, dann in die Lymph- und Blutgefäße. Über die Adern breitet sich der Erreger im Körper aus.
Wie entstehen Lähmungen?
Auch vor Nervenzellen macht das Virus nicht halt. Dort kann es Entzündungsreaktionen auslösen. Verläuft eine solche Entzündung zu stark, kann die Nervenzelle vorübergehend oder für immer ausfallen. Betroffen sind vor allem solche Nerven, die zu den Skelettmuskeln führen. Durch Nervenschäden können Muskeln ihre Verbindung zum Gehirn verlieren, sie lassen sich dann nicht mehr willentlich bewegen und bleiben schlaff.
Welche Symptome kann die Poliomyelitis verursachen?
Die meisten Menschen, die sich mit den Viren anstecken (mehr als 90 Prozent) haben Glück: Sie merken gar nichts von der Infektion, denn sie entwickeln keine Symptome. Nach der Infektion sind sie immun gegen den Polio-Erreger, mit dem sie sich angesteckt haben. Vollständig geschützt vor der Kinderlähmung sind sie allerdings nicht, weil es weltweit mindestens drei verschiedene Typen der Polio-Viren gibt, ihr Immunsystem erkennt nur einen davon sicher wieder. Einen umfassenden Schutz kann bloß eine Impfung bieten.
Bei anderen Patienten treten etwa eine Woche nach der Ansteckung unterschiedliche Beschwerden auf, zum Beispiel Fieber, eine Magendarmentzündung, Übelkeit, Kopf- oder Muskelschmerzen. Meist vergehen sie nach einigen Tagen wieder. Bei wenigen Menschen befällt das Polio-Virus auch Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn. Dann kann es zu den gefürchteten Muskellähmungen kommen.
Die Lähmungen können plötzlich kommen oder schleichend. Besonders oft versagt eines der Beine den Dienst, aber auch Muskeln in den Armen oder im Rumpf können betroffen sein. In seltenen Fällen kann auch das Zwerchfell oder die Schluckmuskulatur ausfallen.
Sobald der Verdacht auf Poliomyelitis besteht, sollten Patienten im Krankenhaus isoliert werden, damit sich die Krankheit nicht ausbreitet. Dort können sie notfalls auch künstlich beatmet oder ernährt werden, wenn Lähmungen der Atem- oder Schluckmuskeln auftreten.
Von einer schweren Polioinfektion bleiben oft Behinderungen zurück, manche Lähmungen bilden sich nicht wieder vollständig zurück, Muskeln verkümmern, Gliedmaßen können durch die Krankheit verformt werden.
Post-Polio-Syndrom (PPS): Menschen, die eine Polioinfektion mit Lähmungserscheinungen durchgestanden haben, können Jahrzehnte später das Post-Polio-Syndrom (PPS) entwickeln. Muskelschwund, Muskelschmerzen und wiederkehrende Lähmungen sind hierfür typisch. Die chronische Muskelschwäche verschlimmert sich mit der Zeit. Ärzte vermuten, dass die Beschwerden daher kommen, dass gesunde Nervenzellen die Arbeit von abgestorbenen Nachbarzellen teilweise übernehmen. Auf Dauer sind sie der ständigen Überlastung nicht gewachsen und altern frühzeitig. Schätzungsweise leben etwa zwischen 50.000 und 60.000 Menschen in Deutschland mit PPS.
Wie wird Poliomyelitis diagnostiziert?
Das Polio-Virus kann in einer Stuhlprobe oder im Abstrich aus dem Rachen im Labor nachgewiesen werden. Wenn ein Arzt testen will, ob sich das Virus bereits im zentralen Nervensystem (Rückenmark und Gehirn) befindet, kann er "Nervenwasser" im Bereich der Lendenwirbelsäule entnehmen (Lumbalpunktion). Hinweise darauf, ob sich jemand mit Polio infiziert hat, geben auch Antikörper im Blut, also Abwehrstoffe, die der Körper gegen den Erreger bildet.
Wie wird die Kinderlähmung behandelt?
Ein spezifisches Medikament gegen das Polio-Virus gibt es bisher nicht. Der Arzt kann nur die einzelnen Symptome behandeln. Wärme und Schmerzmittel können Muskelschmerzen lindern. Fallen lebenswichtige Muskeln aus, werden Patienten auf der Intensivstation betreut und dort beatmet oder ernährt. Nach einer akuten Poliomyelitis müssen sich Patienten oft mehrere Jahre lang schonen. Eine Physiotherapie kann ihnen helfen, mit Lähmungen zurechtzukommen. Speziell angefertigte Schuhe können das Gehen erleichtern. In manchen Fällen kann eine orthopädische Operation helfen, bei der zum Beispiel Muskelgewebe versetzt wird.
Wie kann man vorbeugen?
"Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam" lautete der Slogan, mit dem in den 1960er Jahren für die Polio-Impfung geworben wurde. Heute verwendet man hierzulande einen neuen Impfstoff, der nicht mehr geschluckt, sondern gespritzt wird. Wichtig ist die Impfung nach wie vor, denn die Viren können jederzeit aus anderen Teilen der Welt wieder nach Deutschland gelangen. Das Robert Koch-Institut empfiehlt, bereits Säuglinge immunisieren zu lassen. Dafür sind mehrere Impfdosen im ersten und zweiten Lebensjahr nötig. Zehn Jahre später sollte die Impfung aufgefrischt werden. Eine weitere Auffrischung wird nur für Risikogruppen empfohlen, also zum Beispiel für Touristen, die in ein Gebiet reisen, wo die Krankheit verbreitet ist, für Gesundheitspersonal und für Menschen, die Kontakt zu Infizierten hatten.