Vergrössern, wischen, scrollen – was Kleinkinder auf dem Tablet intuitiv machen, versuchen sie auch im Alltag. Was sich dabei im Baby-Gehirn abspielt, ist noch nicht erforscht.
Alina steht vor dem Aquarium im Zoo und betrachtet den vorbeischwimmenden Fisch mit grossen Augen. Sie ist zwei Jahre alt und strauchelt jetzt vorsichtig Richtung Glasscheibe, noch immer hypnotisiert von dem farbigen Wesen.
Sie streckt ihre Hand aus und bewegt den Zeigefinger und den Daumen der Scheibe entlang voneinander weg. Als würde sie auf einem Tablet ein Bild heranzoomen. Verzweifelt versucht sie so den Fisch zu vergrössern, doch er kommt nicht näher.
Bildschirm vs. Realität
Trotz Misserfolg wendet Alina dieselbe Taktik auch vor dem Fernseher an. Sieht sie eine lustige Figur auf der Mattscheibe, versucht sie sie mit den Fingern grösser werden zu lassen. Ihre Mutter hat sie auch schon dabei erwischt, wie sie mit einem Magazin auf den Knien wie wild mit einer Wischbewegung das Bild zur Seite schieben wollte – anstatt einfach die reale Seite umzublättern.
Alina ist kein Einzelfall. Das Internet ist voll mit Videos und Geschichten über Kinder, die offenbar die reale Welt nicht mehr von einem Tablet-Bildschirm unterscheiden können (siehe Video unten).
Dies erstaunt Thomas Merz, Professor für Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Thurgau, nicht. «Die Funktionen bei Touchscreens sind ja ganz bewusst den typischen Bewegungsmustern in der physikalischen Welt nachgebildet.» Dass Babys die Erfolgserlebnisse, die sie beim Bedienen eines Tablets erfahren, auch in der Realität anwenden, sei nachvollziehbar.
Noch nicht erforscht
Doch was sich tatsächlich im Gehirn der Babys abspielt, wenn sie auch im realen Leben die Touchscreen-Bewegungen imitieren, sei noch nicht erforscht, sagt Entwicklungspsychologin Miriam Beisert. Sie arbeitet in der Abteilung Säuglings- und Kindesalter am Psychologischen Institut der Universität Zürich und startet derzeit ein Forschungsprojekt zu den Unterschieden zwischen frühkindlichem «Handeln in der realen Welt» und «Handeln auf dem Tablet». Denn: «Bisher gibt es meines Wissens tatsächlich noch keine Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen eines häufigen Smartphone-Gebrauchs bei kleinen Kindern.»
Klar sei, dass das direkte Berühren von Elementen auf dem Tablet, im Gegensatz zum Hantieren mit einer entfernten Computermaus, ganz der kindlichen Art und Weise, die Welt zu entdecken, entspreche. «Um neue Dinge zu erkunden und zu verstehen, möchten Kleinkinder sie direkt anfassen», so Beisert. Wenn auf die Berührung beim Touchscreen direkt ein interessanter Effekt, etwa eine Bildänderung, folge, wecke dies als eine Art Belohnung natürlich zusätzliches Interesse.
«Die Welt mit ihren eigenen Sinnen erfahren»
Benutzten Kleinkinder allerdings häufig das Smartphone, sehe sie einen Nachteil in der reduzierten Sinneserfahrung. «Wenn ein einzelner Finger auf eine glatte Oberfläche trifft, ist die Sinneserfahrung recht armselig im Vergleich zur Vielzahl der Möglichkeiten beim Berühren von Dingen in der realen Welt.»
Auch Merz weist darauf hin: «Gerade weil Medien heute eine derart grosse Rolle spielen, ist es für kleine Kinder besonders wichtig, dass sie die Welt mit ihren eigenen Sinnen erfahren.» Dazu gehörten Spiele mit Material, im Wald, mit Sand, mit Bauklötzen und auch Spiele mit anderen Kindern. Erst diese Erfahrungen würden eine taugliche Grundlage für eine gesunde Entwicklung kleiner Kinder bilden.
Quelle: 20 Minuten
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